Selbstorganisierte         Bildung

Elternpädagogik

In den bisherigen Ausführungen ging es darum, ein gewisses Idealbild der schulischen Unterrichtsgestaltung zu entwerfen. Es dürfte klar sein, dass sich eine solche Schule unter den gegenwärtigen bildungspolitischen Voraussetzungen (Teilnahme-, Prüfungs- und Abschlusszwang) nicht verwirklichen lässt. Dennoch scheint es mir wichtig, eine Art Leitbild zu entwerfen, an denen sich alternative Konzepte zur Bildung von Kindern und Jugendlichen orientieren können. Im Folgenden soll es um die Frage nach konkreten Ansätzen und Entwicklungsmöglichkeiten für Alternativen zum staatlich kontrollierten Schulsystem gehen. Die nächstliegende Vorstellung wird wohl sein, dass sich einige Lehrer (ggf. mit Eltern) zusammenschließen, um eine neue Schule zu gründen. Gerade das führt jedoch zu unüberwindlichen Problemen bei der Verwirklichung einer freien Schulbildung: Die Zusammenstellung eines Kollegiums und die Bereitstellung geeigneter Räumlichkeiten verursachen erhebliche organisatorische und finanzielle Probleme. Die entstehenden Kosten müssen weitgehend durch eine ausreichende Anzahl zahlungskräftiger Eltern getragen werden; und schließlich unterliegt natürlich das gesamte Unternehmen einer umfassenden staatlichen Kontrolle in Bezug auf Zulassungen, Abschlüsse, Prüfungsordnungen usw. Statt die Aktivitäten an einem Punkt (dem Schulgelände) zu bündeln und damit für sich selbst schwer gestaltbar und für den Staat leicht kontrollierbar zu machen, bedarf es eines dezentralen Ansatzes, der nur von den Eltern ausgehen kann: Die Eltern sind für ihre Kinder primär verantwortlich; und die Frage ist nun, ob sie 1) von der Untauglichkeit und Schädlichkeit des staatlich kontrollierten Schulsystems überzeugt, und 2) zur Organisation von Alternativen bereit sind. Es ist gegenwärtig kaum möglich, die Existenz einer allgemeinen Schulpflicht zur regelmäßigen Teilnahme am Schulunterricht zu ignorieren, da bei elterlich betriebener Schulverweigerung ggf. der Entzug des Sorgerechts droht. Hingegen ist es durchaus möglich, das eigene Kind vom Leistungszwang zu befreien, indem die Eltern schulische Leistungen und Leistungsnachweise als wenig relevant betrachten und den Schulbetrieb insofern nicht sonderlich ernst nehmen. Das setzt allerdings voraus, den schulischen Abschlüssen kein allzu großes Gewicht beizumessen und stattdessen den individuellen Entwicklungsfähigkeiten des Kindes zur Gestaltung seiner eigenen Biographie zu vertrauen. Falls nun das Kind aber Interesse am Schulunterricht, an den eigenen Leistungen und Leistungsnachweisen, am sozialen Miteinander des Schullebens sowie am Erreichen eines Schulabschlusses entwickelt, so sollten die Eltern dies keineswegs verhindern, indem sie statt der schulischen eine elterliche Bildungsdiktatur ausüben. Vielmehr kommt es auf die Freiwilligkeit des kindlichen Engagements in der Schule an und darauf, die Interessen des Kindes so gut wie möglich zu fördern. Idealerweise gelingt es, den Kindern eine spielerische Einstellung zur Schule zu vermitteln, was allerdings eine entsprechend spielerische Einstellung der Eltern voraussetzt: Um ein möglichst hohes Maß an Freiheit zu gewinnen, bedarf es der Erfüllung bestimmter vorgegebener Pflichten; und Eltern wie Kinder müssen hier „mitspielen“, um ihren Gestaltungsspielraum nicht zu verlieren. Elterliche Bildungsinitiativen können also zunächst nur eine Ergänzung (und keine Alternative) zum konventionellen Schulunterricht darstellen. Folglich kommt es darauf an, den Schulbetrieb durch freie Pädagogik zu erweitern. Hierzu lassen sich einerseits zeitliche Freiräume nutzen, indem die schulischen Aktivitäten auf das erforderliche Minimum reduziert werden. Andererseits können sich nach der Teilnahme am Schulabschluss der 10. Klasse ein oder zwei freie Bildungsjahre anschließen, falls das Kind nicht von sich aus das Abitur anstrebt. In jedem Fall kommt es darauf an, die umfangreichen pädagogischen Möglichkeiten der Eltern außerhalb des Schulunterrichtes konsequent zu nutzen. Welche konkreten Gestaltungsmöglichkeiten ergeben sich hier, und welcher Fähigkeiten bedarf es seitens der Eltern? Zunächst: Die Eltern sollen nicht die Funktion der Schule übernehmen und den staatlichen Bildungsterror durch elterlichen Bildungsterror ersetzen, indem sie es als ihre Aufgabe betrachten, dem Kind irgendwelche Fähigkeiten einzuimpfen. Zur Überwindung der gegenwärtigen Bildungsmisere bedarf es vielmehr der Entwicklung neuer Bildungsformen und -methoden. Insbesondere geht es darum, die spezifischen Voraussetzungen und Vorteile der elterlichen Situation, nämlich das permanente familiäre Miteinander, als Grundlage der Pädagogik auszubauen und auszunutzen: Die Eltern wirken auf ihre Kinder 1) durch ihre Persönlichkeit, 2) durch ihr Verhalten (ihre Lebensführung) und 3) durch ihren Umgang mit den Kindern bzw. Jugendlichen. Wie bewusst gehen die Eltern mit diesen Faktoren um; und inwieweit arbeiten sie diesbezüglich an sich selbst? Die primäre pädagogische Aufgabe der Eltern ist nicht die Wissensvermittlung, sondern die Persönlichkeitsbildung. Dies bedarf der aktiven Unterstützung der Entwicklung des Kindes durch dessen intensive Beobachtung und gedankliche Begleitung. Die entscheidende Frage hierbei ist: Wo will das Kind hin? Nachstehend seien einige zentrale Aspekte einer gedanklichen Auseinandersetzung mit dem Kind genannt: Wie gestaltet das Kind seine Zeit? Wo gibt es Ausgeglichenheiten und Unausgeglichenheiten? Wie zufrieden ist das Kind? Gibt es besondere Unzufriedenheiten und Änderungswünsche? Welche Interessen hat das Kind? Was sind seine Sachinteressen; und wo engagiert es sich emotional und sozial? Welche besonderen Persönlichkeitsmerkmale weist das Kind auf? Wie würde ich mein Kind charakterisieren? In welcher Verfassung befindet sich das Kind? Wie steht es um seine seelische Ausgeglichenheit, seine geistige Aktivität und um sein körperliches Wohlbefinden? Welche besonderen Fähigkeiten und Defizite hat das Kind? Wo liegen seine Stärken und Schwächen? Wo liegt der besondere Bildungsbedarf des Kindes? Welche Fähigkeiten braucht das Kind und wie ließe sich am Erwerb dieser Fähigkeiten arbeiten? Die wichtigste Aufgabe der Eltern besteht darin, das Wesen ihres Kindes zu erkennen und darauf zu vertrauen, dass sich – bei entsprechendem Engagement – geeignete pädagogische Maßnahmen und Aktivitäten finden lassen werden. Einerseits sollen dem Kind keine Bildungsinhalte aufgedrängt werden. Andererseits ist es aber durchaus erforderlich (auch im Interesse der Eltern), ein akzeptables Sozialverhalten des Kindes zu erreichen und sich hierbei gegebenenfalls konsequent durchzusetzen. Es wurden oben die drei Unterrichtsmethoden des Fachunterrichtes, der Themenkunde und der Projektarbeit voneinander unterschieden. Die Eltern werden den Fachunterricht nur in wenigen Fällen adäquat ersetzen können. Auch für die Themenkunde werden sie – mit Ausnahme ihrer eigenen Interessengebiete – vielfach nicht ausreichend qualifiziert sein. Hingegen sollten die Eltern durchaus in der Lage sein, Bildungsprojekte zu initiieren! Projektarbeit stellt nämlich ohnehin die wirkungsvollste Form individueller Bildung dar. Hierzu müssen sich die Eltern allerdings die grundlegenden Fähigkeiten der Projektgestaltung aneignen. Ein Bildungsprojekt besteht grundsätzlich aus den drei Phasen der Vorbereitung, der Durchführung und der Reflexion: Zur Projektvorbereitung gehört insbesondere eine geeignete Projektauswahl. Entscheidend hierfür sind nicht vermeintliche Sachnotwendigkeiten, sondern die konkreten und spezifischen Bedürfnisse des Kindes, die sich nur ermitteln lassen, indem die Eltern die Persönlichkeit ihres Kindes, seinen jeweiligen Entwicklungsstand sowie seine momentanen Bedürfnisse, Interessen und Probleme möglichst genau beobachten und diagnostizieren. Entscheidend für die Umsetzbarkeit der Projektarbeit durch die Eltern ist nun, dass die Kinder die anvisierten Bildungsprojekte weitgehend selbständig durchführen. Dies fördert ebenso die Selbstständigkeit des Kindes, wie es andererseits die Eltern von der zeitintensiven Aufgabe entlastet, ihre Kinder permanent bei der Projektdurchführung beaufsichtigen zu müssen. Umso wichtiger ist die gemeinsame Projektreflexion, d.h. die konzentrierte Besprechung jeder Etappe der Projektdurchführung mit dem Kind, um dessen Reflexions- und Kritikfähigkeit möglichst wirkungsvoll zu fördern. Die Projektreflexion umfasst die Darstellung der eigenen Aktivitäten durch das Kind, die Schilderung von Schwierigkeiten und Problemen, die Bewertung der eigenen Leistung sowie die Vorstellung des weiteren Vorgehens. Durch die gemeinsame Projektreflexion erlangen die Eltern die Übersicht, Kontrolle sowie Korrekturmöglichkeiten bezüglich der Bildungsfortschritte ihrer Kinder; sie können die Projektentwicklung beobachten und geeignete Konsequenzen erwägen. Falls die Eltern nun bezüglich der Durchführung der hier dargestellten Aktivitäten pädagogische Defizite aufweisen, so stellt sich das Problem der Elternbildung: Wie können Eltern die erforderlichen Fähigkeiten erwerben? Da kaum offizielle Bildungsangebote existieren, ist auch die Elternbildung primär eine Frage der Selbstorganisation. Allerdings lassen sich durchaus pädagogische Schulungskurse für Eltern im Internet oder auch eine persönliche Unterrichtung durch ausgebildete Pädagogen denken. Grundsätzlich setzt die Übernahme pädagogischer Verantwortung durch die Eltern die folgenden Grundfähigkeiten voraus: Eltern müssen in der Lage sein, sowohl ihre eigene Zeitgestaltung als auch Bildungsprojekte ihrer Kinder effektiv zu organisieren. Das ist die Fähigkeit der Selbstorganisation. Eltern müssen sich selbstständig pädagogische und sachliche Fähigkeiten erarbeiten können. Das ist die Fähigkeit der Selbstausbildung. Eltern müssen an sich selbst und an ihren eigenen Defiziten arbeiten können. Das ist die Fähigkeit der Selbsterziehung. Eltern müssen ihre eigenen Aktivitäten und Einstellungen kritisch reflektieren können. Das ist die Fähigkeit der Selbstreflexion. Eltern müssen mit ihren Kindern kommunizieren können. Das ist die Fähigkeit der Kommunikation. Eltern müssen in der Lage sein, ihre eigene Beziehung zum Kind bewusst zu gestalten. Das ist die Fähigkeit der Beziehungsgestaltung. Falls Eltern die Leitung und Betreuung von Bildungsgruppen mit mehreren Kindern übernehmen, müssen sie in der Lage sein, den Umgang der beteiligten Menschen miteinander mitzugestalten. Das ist die Fähigkeit der Gemeinschaftsgestaltung. Somit zeigt sich, dass die Ausbildung der genannten sieben Grundfähigkeiten nicht nur das grundlegende Ziel der Schülerbildung, sondern ebenso der Elternbildung darstellt, was die Universalität dieser Grundfähigkeiten verdeutlicht. Die Arbeit der Eltern am Erwerb dieser Fähigkeiten setzt allerdings voraus, dass die Eltern nicht nur ihre Kinder, sondern auch sich selbst als bildungsbedürftige Menschen auffassen, die Interesse an ihrer eigenen Weiterentwicklung und an der Ausbildung neuer Fähigkeiten haben. Zum Seitenanfang