Selbstorganisierte         Bildung
Idee Unser gesellschaftliches Bildungssystem behindert systematisch die individuellen Entwicklungsmöglichkeiten von Menschen: Schulen, Universitäten, Berufsausbildungen usw. zwängen die Entwicklung und Selbstverwirklichung junger Menschen in vorgegebene Bahnen, in denen es darum geht, sich auf genau vorgeschriebenen Wegen oftmals willkürlich festgesetzte Kenntnisse anzueignen und in Prüfungen abzurufen, um zu einem staatlich anerkannten Schul-, Hochschul- oder Ausbildungsabschluss zu gelangen, der dann angeblich die „Chancen auf dem Arbeitsmarkt“ erhöht. Unser sogenanntes Bildungssystem ist seinem Wesen nach gar kein Bildungs-, sondern ein Prüfungssystem: In unterschiedlichsten „Leistungsnachweisen“ wird von Schülern, Studierenden und Absolventen verlangt, dass sie die von ihnen geforderten Leistungen abliefern, unabhängig davon, ob die erwarteten Ergebnisse wahr, sinnvoll oder für das Leben des jeweiligen Menschen von Bedeutung sind. Statt unserer Gesellschaft neue Perspektiven und Potenziale durch die intensive Förderung individueller Fähigkeiten zu erschließen, setzt die gegenwärtige Bildungspolitik auf kompromisslose Anpassung der Menschen an die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen. Das Resultat dieser „Pädagogik“ sind Absolventen, die sich nicht für die Bildungsinhalte, sondern lediglich für ihre Prüfungsergebnisse, d.h. für die Reaktionen ihrer Prüfer interessieren. Die Prüfer selber treten – wie in allen totalitären Systemen – mit dem unhinterfragbaren Anspruch absoluter Autorität auf. Autoritätsgläubigkeit und blinde Folgsamkeit sind die unausweichlichen (und sicherlich auch angestrebten) Konsequenzen einer solchen Dressurpädagogik, die Menschen zu Reproduktionsautomaten ausbildet. Und Autoritätsgläubigkeit sowie blinde Folgsamkeit haben auch das Verhalten der meisten Menschen in der Corona- Krise bestimmt, in welcher die Folgen staatlich organisierter Bildungspolitik überdeutlich zutage getreten sind. Die Entwicklungsperspektiven einer Gesellschaft hängen von den Fähigkeiten der in ihr lebenden Menschen ab. Wenn eine Gesellschaft ihre Mitglieder nicht richtig bildet und ausbildet, dann wird sie im Laufe der Zeit immer mehr stagnieren und verkümmern; und es werden fortwährend soziale Krisensituationen eintreten, wie dies ja auch in der Tat laufend geschieht. Ein schlechtes Bildungssystem führt längerfristig unweigerlich zum Niedergang der Kultur und damit zur Zerstörung einer Gesellschaft. Eine freiheitliche Kultur lässt sich indessen nur mit freiheitlich gesonnenen und freiheitsfähigen Menschen verwirklichen. Was aber Menschen aus sich selber machen wollen, welche Talente, Fähigkeiten und Neigungen sie mitbringen und wie diese Anlagen zu entwickeln wären: All diese Fragen spielen in der gegenwärtigen Bildungspolitik und in unserem Gesellschaftssystem kaum eine Rolle, obwohl doch Artikel 2 unseres Grundgesetzes formuliert: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, sofern er nicht die Rechte anderer verletzt“. Und in § 1 des achten Sozialgesetzbuches heißt es: „Jeder junge Mensch hat das Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.“ Leider versagt unser staatliches Bildungssystem bei der Verwirklichung dieser (grund)gesetzlich vorgeschriebenen Zielsetzungen vollkommen! Aufgrund fehlender individueller Bildungsmöglichkeiten bleiben zahlreiche Anlagen von Menschen unentwickelt, die deswegen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben und ihr mitgebrachtes Potenzial nicht entfalten können. Einförmige Lebensmuster und stagnierende Biografien, Orientierungslosigkeit sowie Depressionen und Aggressionen sind die zunehmenden Folgen dieser Entwicklung, welche immer mehr Menschen in Lebens- und Orientierungskrisen hineinführt. Weil mit einer Veränderung unseres staatlich kontrollierten Bildungssystems bis auf weiteres nicht zu rechnen ist, werden Menschen, die hier nicht resignieren und auf ihre eigene Selbstverwirklichung verzichten wollen, selber für eine Bildung und Ausbildung sorgen müssen, die ihren individuellen Bedürfnissen und Möglichkeiten entspricht. Dann darf Bildung allerdings nicht mehr als Konsumgut betrachtet werden, das dem Menschen – organisiert von Politik, Wirtschaft und Medien – durch die Gesellschaft verabreicht wird. Stattdessen geht es darum, die eigenen Bildungsprozesse selber in die Hand zu nehmen und sich seine Bildung selber zu organisieren, um sich diejenigen Fähigkeiten anzueignen, die ich brauche, um mein Leben und meine eigene Entwicklung selbständig zu gestalten. Da die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Verhältnisse in unserer Gesellschaft zunehmend unsicherer und labiler werden, sind die zukünftigen Lebensverhältnisse und Entwicklungsperspektiven der Menschen immer weniger berechenbar. Somit lässt sich auch nicht vorhersehen, welche konkreten Fähigkeiten jemand tatsächlich benötigen wird, um die im Laufe seines Lebens an ihn herantretenden Herausforderungen zu bewältigen. Da Fähigkeiten durch Bildung vermittelt werden, ist folglich auch nicht absehbar, welche Bildung ein Mensch während seines Lebens brauchen, und wann er die jeweilige Bildung benötigen wird. Deswegen kommt es vor allem auf den Erwerb solcher Fähigkeiten an, die es ermöglichen, sich die in bestimmten Lebenssituationen erforderlichen Fähigkeiten selbständig zu erarbeiten. Das erfordert die Ausbildung allgemein anwendbarer Grundfähigkeiten, ohne deren Erwerb sich individuelle Selbstverwirklichung und ein soziales Zusammenleben der Menschen nicht befriedigend gestalten lassen. Hierbei handelt es sich zunächst um vier selbstbezogene Grundfähigkeiten zur 1. Selbstorganisation 2. Selbstausbildung 3. Selbsterziehung und 4. Selbstreflexion. Dazu kommen die drei sozialen Grundfähigkeiten der 5. Kommunikation 6. Beziehungsgestaltung und 7. Gemeinschaftsgestaltung. Die Ausbildung dieser Grundfähigkeiten wird einen Menschen befähigen, mit den unterschiedlichsten Herausforderungen souverän und produktiv umzugehen und ihm insofern eine umfassende soziale Selbstverwirklichung im Sinne einer „freien Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit“ ermöglichen. Er wird in der Lage sein, sich genau diejenigen konkreten Kenntnisse und Fähigkeiten selber anzueignen, die er in einer bestimmten Lebenssituation oder Lebensphase wirklich braucht. Damit wird der Erwerb von Bildung zu einer individuellen, in eigener Initiative betriebenen Angelegenheit: Jeder Mensch kann sich im Verlauf seines Lebens diejenige individuelle Bildungsbiographie gestalten, die ihm selber angemessen ist. Selbstorganisierte Bildung ist vor allem Projektarbeit, in der es darum geht, seine eigenen individuellen Bildungsprojekte gezielt auszuwählen, zu gestalten und konsequent durchzuführen. Das setzt Selbstmotivation, Eigeninitiative, Willensstärke, Selbstdisziplin sowie die Fähigkeit zum selbständigen Arbeiten voraus. All diese Fähigkeiten müssen aber oftmals selber erst erlernt werden. Die Ausbildung zur Projektarbeit stellt insofern ein eigenes Bildungsprojekt dar. Die Aufgabe von Pädagogen (insbesondere von Lehrern und Eltern) müsste in Zukunft vor allem darin bestehen, Menschen die Fähigkeit zur Selbstorganisation ihrer eigenen Bildung zu vermitteln. Lehrer (und Eltern) werden allerdings in unserer Gesellschaft keineswegs dazu ausgebildet, Menschen zur Selbständigkeit zu erziehen. Folglich muss die Fähigkeit, die Selbstorganisation von Bildung bei anderen anzuregen, vielfach selber erst erworben werden; und dies kann wiederum nur durch die selbstorganisierte Ausbildung der entsprechenden pädagogischen Fähigkeiten geschehen: Auch Lehrerbildung (und Elternbildung) wird in Zukunft primär selbstorgansierte Bildung sein müssen, entweder einzeln oder in selbstorganisierten Arbeitsgemeinschaften. Wie kann die Schule der Zukunft aussehen? An eine Reform unseres gesellschaftlichen Bildungssystems ist aufgrund der gegenwärtigen politischen Verhältnisse bis auf weiteres nicht zu denken. Dennoch wäre es wichtig, eine Perspektive bzw. ein Ideal zu entwickeln, an denen sich sowohl individuelle wie auch gemeinsame pädagogische Aktivitäten orientieren können. Der Unterricht bzw. die pädagogische Arbeit in Schulen sollte m.E. zukünftig drei grundlegende Bildungsformen umfassen und aufeinander abstimmen: 1. die Vermittlung grundlegender Fähigkeiten im Fachunterricht, 2. die Anregung von sachlichem Interesse in einer möglichst vielseitigen Themenkunde sowie 3. die Förderung von Eigeninitiative in der Durchführung selbstbestimmter Bildungsprojekte. Zum Seitenanfang